Vor dem Verstummen

Um eine Komposition im Denkmal aufzuführen, musste vor allem eine Herausforderung gelöst werden: Ein visueller Kontakt zwischen Dirigent und allen Musikern. Das konnte so gelöst werden, in dem ein Teil der Musiker in den sich beiden kreuzenden Sichtachsen den Dirigenten direkt sehen konnten – alle anderen erhielten kleine Monitore. Angesichts der Wellenbewegung des Bodens im Denkmal mussten zusätzlich große Instrumente, wie die Pauken, auf spezielle Podeste gestellt werden.

Die Musiker mit ihren Musikinstrumenten waren im Umkreis von ca. 100 Metern in Mitten des Denkmals um den Dirigenten herum verteilt. In der Mitte der Dirigent, in einem ersten „Kreis“ die Cellisten, in weite- ren dann die Übrigen. Nach dem dramaturgischen Höhepunkt in etwa der Mitte des Werkes, begab sich zusätzlich eine Sopranistin auf die Reise: zu Fuß, ganz langsam gehend, durch einige Reihen des Stelenfeldes, in der Nähe des Diri- genten. Sie singt „Welke Blätter“, ein Gedicht der jungen Selma Meerbaum-Eisinger, die 1942 im Zwangsarbeitslager Michailowka als 18-Jährige starb.

Durch die großen Abstände der Musiker zueinander konnten sich alle Besucher frei im Stelenfeld des Denkmals bewegen. Jeder hatte so ein individuelles Erlebnis, das dennoch allen gleichzeitig zuteil wurde. Und in Mitten der Aufführung dann das diffuse Aufkommen einer Stimme, immer kurz vor dem Verstummen.

Als Komponist Harald Weiss, bekannt für besondere Kompositionen, insbesondere auch an unkonventionellen Orten z. B. im Wald, sich für das Werk zum ersten Mal ins Denkmal begab, war für ihn sofort klar: Es bedarf gar keinem „neuen Sound“, viel mehr müsste man die an diesem Ort vorhandene Musik verstärken und hörbar machen. Mit „Vor dem Verstummen“ sollte dies in eindrucksvoller Weise gelingen. Und so eindrucksvoll die Uraufführung am 09. Mai 2008 auch war, sie sollte die erste und bisher einzige bleiben.

Jeder Mensch ist einzigartig und etwas Besonderes. Die unzähligen Namen und Geschichten der Ermordeten des Holocaust – sie sind weg. An sie zu erinnern, sie nicht zu vergessen, das ist das Mindeste was wir tun können. Alle gemeinsam und dennoch für jeden individuell. Das Konzert im Denkmal ist der Versuch, aus der anonymen Unbegreiflichkeit des Holocaust begreifbare Emotionen auszulösen, die einzigartig individuell sind. So wie es jeder ist, so wie es jeder war.

Selma Meerbaum-Eisingers Gedicht „Welke Blätter“ ist Vorlage des Werkes „Vor dem Verstummen“ von Harald Weiss.